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Schwarzlicht.

Des Rätsels Lösung war einfach. Wenn ich jetzt zurückblicke, wundert es mich, daß es mir nicht sofort auffiel. Die Toten hatten es mir gesagt. Jedes Wort. Aber ich hatte es nicht verstanden. Ich verstehe es jetzt. Nicht daß es einen Unterschied machen würde. Außer mir interessiert sich niemand für das Gerede von Toten. Auch nicht, wenn sie die Wahrheit sagen. Wir denken, sie sollten besser schweigen, das tun sie doch ohnehin. Und vielleicht ist es auch besser so.

+++

"...Abgrund im... Mund... dunkle... Sonne... sie verschlingt uns... alle sie... frißt mich... auf ihre... Augen wie... Plastik sie haßt mich... uns zerbricht ihre Schale nur... schwarze Milch... ich kann sie doch nicht sehen..."

Mit einem Knopfdruck stoppte ich das Band, mit einem weiteren spulte ich es zurück zum Anfang. Während das Diktiergerät jaulende Geräusche von sich gab, sah ich mich um und dachte nach.

Ich befand mich in einem kühlen Raum. Vor mir lag eine nackte Leiche auf einem blanken Stahltisch. Sie war an diversen Stellen aufgeschnitten. Auf der Haut der Leiche spiegelte sich das bleiche Licht der Neonröhre über uns. Reste von geronnenem Blut versickerten im Ausguß. Um mich herum lagerten mehrere Stücke toten Gewebes in Plastikbechern mit klarer Flüssigkeit. Noch vor kurzem kamen die einzigen Geräusche in diesem Raum aus dem vertrockneten Mund einer Leiche und seitdem war es still, genau wie vorher. Wie sollte ein normaler Mensch unter diesem Umständen nicht zynisch werden?

Das Band war wieder am Anfang. Ich spielte mit dem Gedanken, es wieder anzuschalten und die Aufnahme erneut zu hören, legte es aber statt dessen auf einen der Tische. Dann ging ich zur Leiche hinüber und starrte sie an.

Männlich, ca. 40, mittelgroß, durchschnittlich schwer, präzise Einschnitte am Kopf, die ich selbst zugefügt hatte, zertrümmerter Hinterkopf. Tot. Dieses Detail sollte man nicht vergessen.

Der Mund war noch geöffnet, aber er schwieg. Das war in Ordnung, schließlich hatte er bereits alles gesagt. Als ich mich über ihn beugte, um ihm in die Augen zu sehen, strich ein Rest von Atem über mein Gesicht. Die Linsen waren getrübt und ausdruckslos. Nichts konnte ihn dazu bringen, mich anzusehen, aber auch das war in Ordnung. Man mußte wissen, wann man die Grenze des geistig Gesunden erreicht hatte.

"Danke," flüsterte ich in sein Ohr, wohl wissend, daß er mich nicht hören konnte. Im Stahl des Tisches konnte ich noch mein eigenes blasses Abbild betrachten, rot unterlaufene Augen, Haare in derselben Farbe, und ich fragte mich, wer hier wirklich der Tote war. Und dabei konnte ich mein Inneres nicht einmal sehen.

Nein. Auch mein Zynismus hatte Grenzen. Genau wie meine Fähigkeit ohne Schlaf auszukommen. Schlaf konnte mir zwar die Müdigkeit, die mich befiel nicht nehmen, aber sie schränkte meine Fehlerquote ein. Und Fehler konnte ich mir jetzt nicht erlauben, nicht so kurz vor der Stunde Null.

Mein Schlafmangel wurde mir dann deutlich, als das Licht im Raum anfing zu flackern. Ich kontrollierte die Deckenbeleuchtung und merkte, daß es nicht die Lampen waren, die zuckten, sondern meine Lider. Und die Tatsache, daß mein erster Gedanke war, sie auszuwechseln tat das Übrige. Ich brauchte Schlaf, nicht Koffein, nicht Nikotin. Ich konnte es nicht mehr länger aufschieben. Und doch wollte mir der Gedanke nicht richtig behagen. In letzter Zeit schlief ich nicht sehr gut.

+++

Ich bin in einem kühlen Raum mit einer Leiche. Dafür bin ich dankbar, denn die Hitze draußen ist unerträglich. Das Opfer wurde gestern erschossen. Ich werde es mir genauer ansehen.

Dann spricht sie. Vor Schreck trete ich zurück und falle beinah. Mein Herz pocht laut und schnell. Ich ringe nach Atem. Es war nur ein Wort.

Die Lippen bewegen sich, aber es kommt kein Ton mehr aus dem Mund. Ich sehe zu und denke an einen erstickenden Fisch. Dann verstehe ich. Es ist keine Luft mehr in den Lungen.

Ich muß es wissen. Ich muß wissen, was sie sagen will.

Während meine Gedanken rasen, versuche ich, auf den Brustkorb zu drücken, um das Restvolumen heraus zu drücken, aber breche statt dessen nur ein paar Rippen.

Schließlich fange ich einen Gedanken ab, der funktionieren könnte. Und ehe ich es mir anders überlegen kann, lege ich meinen Mund an ihren und blase hinein.

Die unnachgiebige Bewegung der kalten Lippen macht es nicht einfacher, und ich brauche mehrere Versuche, bis ich erfolgreich bin.

Als die von mir gegebene Luft aus dem toten Körper entweicht, bewegen sich die Lippen nicht mehr. Nach fast dreißig Sekunden unfaßbarem Schweigen, wird mir klar, daß ich zu langsam war. Draußen wird die Sonne gerade schwarz, aber das weiß ich noch nicht. Mein Verstand unterrichtet mich über das, was ich gerade getan habe, aber mein Gefühl weigert sich zu reagieren. Es geht mir nicht schlecht, ich bin nur etwas benommen.

Ich setze mich auf den Stuhl, um auszuruhen. Lange Zeit tue ich nichts anderes. Bis das Telefon klingelt und Katrin mich anschreit. Ich weiß, daß hier gerade eine Veränderung abläuft, nur bin ich nicht fähig, sie gänzlich zu erfassen. Etwas ist gegangen und etwas anderes hat dessen Platz eingenommen, aber ich kann es noch nicht erkennen.

Ich lege meinen Kittel ab und gehe nach draußen.

+++

Die frühe Sonne brannte in meinen Augen. Etwas unbeholfen stolperte ich über die Straße, verwundert über die relative Abwesenheit von Schatten auf dem Asphalt. Es war kein weiter Weg zum Krankenhaus, aber ich konnte kaum sehen, und ich fror im grellen Sommerlicht.

Einem grünen Automaten entwendete ich die heutige Zeitung. Jugendlicher erschoß sechzehn Mitschüler während einer Englischstunde. Ah. Es war Sonntag.

Vor dem Eingang zum Krankenhaus fing das Licht wieder an zu flackert, doch diesmal reagierte ich nicht. In die Sonne zu sehen ist nicht gesund. Die Folgen so einer Aktion trägt man den Rest seines Leben mit sich herum.

Ich kämpfte mich durch den Geruch von Desinfektionsmittel und Linoleum zum zweiten Stock. Katrins Zimmer war am Ende des Ganges. So hatte ich wenigstens keine Ausrede daran vorbeizugehen.

Es roch schon nach Krankheit bevor ich eintrat. Niemand konnte mir jemals erklären, woher das kam, welche Stoffe der Luft diese kränklichen Qualitäten verpaßten. Es mochten Chemikalien, Bakterien oder Einbildung sein, aber eigentlich kannte niemand den Grund. Obwohl jeder sofort wußte was ich meinte, gab es keine wissenschaftliche Erklärung. Doch ich wußte, woher es kam, sobald ich Katrin sah. Es war ihr Zustand, der jeden Sinn einnahm. Warum also nicht den Geruch?

Ihre Haut war so ledern wie das der Präparate, ihr Kopf genauso kahl. Man mochte ihre Knochen zählen ohne sie anzufassen, so dünn war sie geworden. Die Veränderung war stetig und doch konnte ich mich nicht daran gewöhnen.

So war sie nicht immer gewesen. Einst hatte sie ausgesehen wie eine Elfe. Ihre Schönheit und unser Kind hatten uns verbunden. Jetzt verband uns gar nichts mehr.

Langsam ging ich auf sie zu, hoffte, sie würde mich nicht ansehen, mich nicht hören, daß der schabende Fernseher sie von mir ablenken würde bis ich weg war. Oder bis sie weg war. Aber das war illusorisch. Irgendwie nahm sie mich jedesmal wahr. Die Macht der Gewohnheit. Vielleicht roch sie mich.

"Hallo." Es aufzuschieben hatte keinen Sinn. Meine Stimme klang indezent monoton.

"Hallo, Mark."

Ihr Blick war weiterhin auf den Fernseher gerichtet, damit ich mich langsam an ihrem Anblick gewöhnen konnte. Ich wünschte, sie würde nicht so viel Rücksicht auf mich nehmen.

"Ich habe dir eine Zeitung mitgebracht. Man riecht die Druckerschwärze noch." Ich überlegte schnell. Zu schnell für meinen Zustand. "Du siehst gut aus."

Ihre Augen drehten sich zu mir und haßten mich. "Du auch."

Diese Besuche waren schon lange nicht mehr angenehm, für keinen von uns beiden. Wenn man nichts Ehrliches mehr zu sagen hatte, sagte man nur die falschen Dinge. Aber wir taten es dennoch. Als wären wir es uns schuldig. Machmal hatte ich fast den Eindruck, ich wäre an sie gekettet.

"Was steht in der Zeitung?" fragte sie und drehte den Kopf dabei wieder zum Fernseher.

"Ähm..." ich blätterte nach, "nicht viel neues. BSE hat quotentechnisch den DAX überholt. Zweiundsiebzig Tote bei Flugzeugabsturz. Tbc auf dem Vormarsch. Prinzessin Monika sucht Abendkleid für Galaabend in Kirchheim aus. Solche Sachen."

"Das kam schon im Fernsehen," meinte sie trocken. Sie hatte für meinen Humor nie viel übrig gehabt. Sie hielt ihn für zu morbide.

"Ich dachte nur, du wolltest vielleicht etwas lesen." Ich ging näher zu ihr hin. "Ich lasse sie hier auf deinem Tisch, in Ordnung?"

Zu viele Sekunden vergingen, bevor eine Reaktion kam. Es war kein gutes Zeichen. Ich sollte möglichst schnell gehen-

"Erinnerst du dich noch an die Sonnenfinsternis August 1999? Angeblich zeigen sich jetzt die ersten Formen von Augenkrebs."

-doch manchmal war ich einfach zu langsam.

Katrin hatte Angst im Dunkeln. Es klang viel lustiger als es war. Damals während der zehn Minuten Nacht hatte ich sie allein gelassen, obwohl sie mich gebeten hatte, bei ihr zu sein. Die Arbeit hatte mich gefangen gehalten und mir jeden Sinn für Zeit geraubt. Unbemerkt waren die Minuten an mir vorbei gezogen, und Katrin hatte vor Angst fast den Verstand verloren. Lange Zeit hatte sie mir das nicht verziehen. Es machte es nicht besser, daß sie es gerade jetzt erwähnte.

"Du weißt doch, ich habe es nicht gesehen. Ich habe gearbeitet." Diese Antwort war so neutral wie Antworten nur sein konnten.

"Ja. Wußtest du, daß man sich früher vor der Sonnenfinsternis versteckte, weil man Angst hatte, die Welt würde untergehen? Sie hatten Angst die Sonne käme nicht zurück. Verrückt, nicht? Was macht deine Arbeit?"

Das erwischte mich kalt. Wir sprachen nicht mehr über meine Arbeit.

"Gut. Es geht gut voran."

"Erzähl es mir."

Was wollte sie von mir? Sollte ich ihr über die Leiche des Tages berichten?

"Da gibt es nichts zu erzählen. Ich arbeite immer noch an derselben Sache. Es klappt alles ganz gut. Vielleicht werde ich innerhalb der nächsten Wochen fertig."

"Hat eine von ihnen geredet, Mark?"

Verdammt. Etwas stimmte hier nicht. Wir redeten nicht darüber, hatten wir noch nie. Aber ich gab dennoch nach. Im Moment war ich zu müde für Opposition.

"Ja. Heute hat die erste geredet. Ein Mann, Opfer eines Totschlags vor vier Tagen. Die Polizei hat ihn in seiner Wohnung gefunden, nachdem sich die Nachbarin über den Geruch beschwert hatte."

Ich überlegte, ob ich irgendwas ausgelassen hatte, aber meine Zusammenfassung war akkurat. "Zufrieden?"

Sie schaltete das Programm um. Das Geräuschbild änderte sich unmerklich von einer Sorte Rauschen in eine andere.

"Was du tust, ist nicht richtig."

Warum sagte sie mir das? Ich wußte, was sie von meiner Arbeit hielt. Wie auch alles andere in unserer Beziehung hatten sich unsere Auffassungen von Leben und Tod, von Atheismus und Religion nicht vertragen. Die Grundlagen ihres Glaubens und die meiner Arbeit waren nicht miteinander vereinbar. Eine Kommunion entgegengesetzter Prinzipien dieser Größenordnung war nicht nur schwierig, sie hätte niemals statt finden dürfen.

Aber das war nicht mehr unser Problem. Nichts war mehr unser Problem. Also warum tat sie so, als gäbe es so etwas noch?

"Ich glaube, ich tue das Richtige. Wenigstens tue ich etwas. Vielleicht rette ich damit ein paar Leuten das Leben." Auch diese Worte waren schon oft gefallen.

"So wie meines," schloß sie.

Als ich vor zwei Jahren bei ihr Leukämie diagnostiziert hatte, hatte ich gewußt, es war das Ende von etwas. Oder der Anfang von etwas anderem. Sie hatte mir die Schuld gegeben. Nicht an der Erkrankung, das wäre albern, aber an der Tatsache, daß sie den Rest ihres Lebens mit bedrücktem Gemüt führen mußte. Das war genauso schlimm, als hätte ich den Krebs selbst in ihr Blut gepreßt. Trotzdem glaubte sie in meiner Schuld zu stehen. Auch dies war eine Diskussion, die ich nicht noch einmal führen wollte, schon gar nicht zu diesem Zeitpunkt.

"Ich gehe jetzt."

Mir wurde bewußt, daß ich die Zeitung noch immer in der Hand hielt. Als ich mich ihrem Bett näherte, um sie auf den Nachttisch zu legen, packte Katrin meinen Arm. Ihre Augen füllten sich langsam mit Tränen.

"Geh nicht, bitte. Laß mich hier nicht allein. Ich sterbe hier. Ich will nicht sterben."

Das Bild von ihr, wie sie so da lag, armselig und hilflos, legte sich über meine Erinnerung von ihr, als ich sie noch liebte. Und löschte sie für immer aus. Dieser Vorgang dauerte nicht länger als ein paar Sekunden.

Mit etwas zu viel Kraft als nötig riß ich mich los.

"Ich muß gehen. Ich... habe noch sehr viel zu tun."

Und dann ging ich. Ihr anschwellendes Schluchzen ließ mich meinen Schritt nur beschleunigen.

+++

Es war auf dem Weg nach draußen, wo der Anblick einer Frau meine Schritte einfrieren ließ. Ich konnte mich gar nicht daran erinnern, wann mir so etwas das letzte Mal passiert war. Mußte Ewigkeiten her sein.

Man hatte sie auf dem Gang abgestellt. Sie lag zwischen den weißen Bezügen, ihr langes Haar im Kontrast schwarz wie Kohle. Mit geschlossenen Augen lächelt sie.

Blinzelnd ging ich zu dem Bett und faßte ihr Haar an. In diesen endlosen leblosen Hallen war es für mich wie ein zartes Licht im grellen Dunkeln. Dann schlug sie die Augen auf und sah mich an. Schwarze Augen.

"Herr Doktor?"

Ihre Stimme war sanft und schläfrig. Sie lächelte immer noch. Ein Blick auf den Infusionsbeutel sagte mir, daß sie für eine OP vorbereitet wurde. Ein weiterer verriet, daß die Klinik wohl gerade mit Platzmangel zu kämpfen hatte. Und das Personal rar war. Ich versuchte, genauso tapfer zu lächeln wie sie. Es blieb bei einem Versuch.

"Ja, ich bin hier bei Ihnen. Haben Sie keine Angst."

Ihr Gesicht war ein Sinnbild innerer Ruhe. Es war wundervoll. Alles in ihr war schön und deswegen war es ihr Äußeres auch. Es war die Art von Schönheit, die ich bei Katrin immer vermißt hatte.

"Ich habe keine Angst," sagte sie. "Ich bin bereit. Ich habe keine Angst vor dem Tod."

"Das müssen Sie auch nicht. Sie werden noch viele Jahre Zeit haben, bevor Sie sich darüber Gedanken machen müssen."

"Nein, sie verstehen das nicht. Ich hatte ein schönes Leben und jetzt werde ich glücklich sterben. Es ist gut so."

Ich stand noch da und ihre Worte hallten in meinem Kopf nach, als zwei Pfleger sich an mir vorbei schoben und das Bett bewegten.

"He, warten Sie."

Die beiden stoppten und sahen mich erwartungsvoll an.

"Bringen Sie die Patientin nach der OP in Zimmer 224 unter. Auf meine Anordnung."

Sie nickten beide und schoben das Bett dann zum OP. Ich folgte dem langen Gang in die entgegengesetzte Richtung.

Ich hatte keine Ahnung, was da gerade passiert war, aber hoffentlich würde Katrin die Gesellschaft zu schätzen wissen.

+++

Ich liege in meinem Bett. Katrin liegt neben mir, nackt. Im Schlaf drückt sie ihren Körper an meinen, doch ich weise sie zurück. Sie ist zu heiß. Sie verglüht in diesem Bett. Ihre Worte verbrennen auch mich, jeden Tag, dabei sprechen wir sie gar nicht aus. Deswegen flackern sie in mir. Sie wirft keinen Schatten. Sie ist ein kindlicher Geist mit leerer Seele, ohne jede Schicht unter der braunen Haut. Und das Kind ist nur ein anderer Teil von ihr. Wo bin ich? Mir ist kalt und ich kann nicht schlafen.

+++

Etwas weckte mich. Ich sah eine Leiche, nackt und vor mir ausgebreitet, ihr Fleisch blendend hell von der künstlichen Sonne über uns, Glitzern in den Augen. Auf der anderen Seite des Tisches fünfzehn Menschen, die abwechselnd mich und das Präparat beäugten. Ich war wohl kurz eingenickt.

Etwas beschämt wich ich ihren Blicken aus und konzentrierte mich auf den Toten. Die Erinnerung kam zurück.

"Die Zeichen des klinischen Todes," begann ich, "sind stets als spekulativ anzusehen. Einzeln betrachtet sind sie noch keine sicheren Zeichen. Klinisch zu erfassen sind der Herzstillstand..."

Meine Handfläche glitt über den entsprechenden Punkt auf dem stillen Brustkorb. Das Herz war die treibende Kraft des menschlichen Körpers, der Mittelpunkt seines Daseins. Ohne ein schlagendes Herz war das Leben nicht möglich. Zumindest kein menschenwürdiges Leben.

"...Erloschene Reflexe..."

Ich schnippte ein paar Mal gegen das blinde Auge. Ein Toter reagierte nicht. Weder auf Stimmen, Berührungen, noch auf Schmerzen.

"...Abnorm niedrige Körpertemperatur..."

Tastend fuhr ich über den kalten Arm. Nach Eintritt des Todes fiel die Temperatur unaufhaltsam. Kleidung oder Decken, dessen Wirksamkeit mit der Eigentemperatur zusammenhingen, waren nutzlos. Sonnenlicht vermochte den Körper eine Weile warm zu halten. Aber nicht dieses Licht hier.

"...Und fehlende Atmung."

Mit dem Leben verlor man ebenso die Notwendigkeit zu Atmen. Es bedeutete auch, das der Tote nicht sprechen konnte. Zumindest nicht ohne Hilfe. Ich sah davon ab, auch dies zu demonstrieren.

"Wir können somit schon einmal schließen, dieser Mensch hier ist klinisch tot."

Das folgende Schweigen betrachtete ich als Zustimmung. Niemand konnte erwarten, daß außer mir irgend jemand etwas sagte. Es wäre gegen jede Tradition.

"Die sicheren Zeichen des Todes treten erst später ein. Dafür sind sie aber eindeutig."

In den meisten Fällen, ja. Es kam darauf an, wie man den Zustand Tod definieren wollte.

"Die Totenflecken, die sich auf der nach unten liegenden Seite ausbilden sind hier zu sehen."

Geronnenes Blut sackte immer nach unten. Tote bekamen beim Stehen schwere Beine.

"Die Trübung der Hornhaut..."

Die Augen vermittelten den Eindruck angelaufen zu sein wie eine Fensterscheibe. Das mußte bedeuten, daß Tote schlecht oder gar nicht sehen konnten. Ihre Ansichten blieben also unklar.

"...Und schließlich die Autolyse, die Selbstauflösung, welche die Totenstarre aufhebt."

Selbst wenn sie von außen unversehrt erschienen, waren sie innen doch schon am verrotten. Leichen waren trügerische Dinge. Man konnte sich sehr in ihnen täuschen.

"Wenige Minuten nach dem Herzstillstand beginnt die irreversible Zerstörung der Gewebe."

Ein auswegloser Zustand. Von hier aus gibt es nur noch einen Weg.

"Als aller erstes zerfällt die Struktur des Nervensystems. Nach fünf Minuten sind bereits bleibende Schäden vorhanden."

Gedanken, Gefühle und Emotionen erloschen langsam und unaufhaltsam. Sie wurden unwiederbringlich vergessen.

"Davon scheint das Gedächtnis am stärksten betroffen zu sein."

Und doch blieben manche Erinnerungen erhalten, je intensiver desto länger. Am längsten jedoch hielt sich das Wissen um die letzten Sekunden vor dem Tod. Es war noch fast fünf Tage lang gespeichert, bevor es verschwand. Keiner wußte wie und keiner wußte warum und die wenigstens wußten es überhaupt. Aber es schien einfach so zu sein.

"Alles andere folgt dann unweigerlich."

Denn ohne unsere Erinnerungen sind wir niemand.

"Der Tod ist endgültig und unumkehrbar. Tote können nicht zum Leben erweckt werden. Sie haben einen Punkt ohne Rückkehr überschritten und das finale Stadium erreicht. Wir betrachten es, als das Ende des menschlichen Daseins. Merken Sie sich, die einzige Krankheit für die es keine Rezidive gibt, ist das Leben."

Und wenn ein Toter, wenn auch nur für eine kurze Zeit, seine motorischen Funktionen wiedererlangen würde, wäre das die Widerlegung all dessen, was ich gerade behauptete. Allein schon aus diesem Grund wäre die Vorstellung, eine Leiche sprechen zu lassen völlig absurd und unsinnig. Folglich sollte man die Verfolgung dieses Thema auch als reine Zeitverschwendung abtun und niemals öffentlich erwähnen. Es war einfach besser so.

Müde beugte ich mich über die Person, die noch vor wenigen Stunden zu mir gesprochen hatte.

"Das ist alles."

+++

Ich bin in der Frauenklinik vor vier Jahren und höre Katrin weinen. Ich habe sie schon oft weinen gehört, aber diesmal ist es anders, das weiß ich. Es ist, als wäre ein Teil von ihr gestorben, und genaugenommen ist es auch so.

Auf leisen Sohlen gehe ich in das Zimmer, darauf bedacht, mich im Schatten zu halten. Es ist das erste Mal, daß ich versuche von ihr nicht bemerkt zu werden. Ich will nichts von dem hören, was sie mir sagen wird.

In einem sterilen Beutel liegen die Reste meiner Tochter. Oder meines Sohnes. Ich erinnere mich nicht mehr. Katrin hatte enorme Schmerzen im Bauch, es war offensichtlich, daß das nicht normal war. Wir haben es beide ignoriert, so gut es ging, keiner von uns wollte es beenden. Bis es zu spät war, um noch etwas zu retten. Oder jemanden. Und jetzt ist es tot.

+++

Hier spricht Mark Moreth ich bin jetzt nicht mehr hier bitte hinterlassen Sie mir eine Nachricht auf dem Band.

"Tag, hier ist Hauptkomissar Walsch, Mordkomission. Wie ich höre, zeigt das Projekt erste Erfolge und ich dachte, sie könnten mich darüber genauer informieren. Am meisten läge mir, wie Sie eigentlich wissen sollten, an einer Täterbeschreibung. Sie haben standfest behauptet, so was aus dem... ehemaligen Opfer raus holen zu können . Ich möchte Sie nicht um Resultate bitten müssen. Ich erwarte einfach, daß sie da sind.

Rufen Sie mich an. Und genießen Sie das tolle Wetter."

+++

Noch am selben Tag bekam ich von der Polizei zwei neue Leichen zugeschickt. Sie mußten wirklich verzweifelt sein, denn ich konnte noch keine schlüssigen Ergebnisse liefern. Den Aussagen des Hauptkommissars nach, war die Rate an Gewaltverbrechen im letzten Jahr erschreckend gestiegen. Scheinbar war ich ihre beste Chance. Ich mußte sagen, ich mochte nicht in ihrer Haut stecken. Die mysteriösen Worte des Toten behielt ich vorläufig für mich.

Der kleine Beamte, der den Lieferjob erledigte, fühlte sich sichtlich unwohl. Die Mittagssonne traf sein Gesicht. Er zuckte zurück und fröstelte, zögerte aber weiterhin, das Gebäude zu betreten. Sicher war dies nicht der angenehmste aller Orte, aber ich wollte trotzdem wieder hinein. Hier draußen kam ich mir nicht sicher vor. Ich fragte mich, warum mir nicht warm wurde. Sicher lag es am fehlenden Schlaf.

Im dunklen Gang vor dem Sektionssaal redete er dann das erste Mal mit mir. Seinen Ekel hörte man deutlich heraus. Er war wohl nicht oft von Toten umgeben.

"Man hat mir von Ihrer Arbeit berichtet," sagte er. "Ich kann nicht sagen, daß es mir gefällt."

Niemand hatte ihn um seine Meinung gebeten, aber irgendwie verpaßte ich den richtigen Moment, um etwas Kluges zu erwidern.

Ich betätigte den Schalter hinter der Tür, und der Raum wurde von bleichem Licht geflutet. Beim Anblick der beiden Opfer schüttelte der Mann den Kopf.

"Die Angehörigen haben ihre Mißbilligung ausgesprochen. Die Mutter des männlichen Opfers ist sehr katholisch. Sie sagte, man sollte die Toten nicht in ihrer Ruhe stören, sie zu wecken sei der Anfang vom Ende. Sie dürften erst beim jüngsten Gericht auferstehen, Apokalypse und so weiter. Ich verstehe sie gut. Aber sie erhofft sich auch eine Aufklärung des Falles, deswegen hat sie eingewilligt. Ich dachte, Sie sollten das wissen."

Mit fachmännischen Blicken untersuchte ich den Körper des Jungen. Man hatte ihn erwürgt. Das Blaue an seinem Hals wirkte fast schwarz unter der Lampe.

"Wissen Sie was Apokalypse bedeutet?" fragte ich beiläufig.

Von meiner eintönigen Stimme aufgescheucht, hörte der Beamte auf, im Raum umher zu gucken.

"Es bedeutet das Ende der Welt," mutmaßte er. "Das letzte Buch der Bibel."

"Es bedeutet Offenbarung," sagte ich ihm. "Die Gabe von Wissen, übernatürlichem Wissen, von einer höheren Macht geschenkt."

Ich schenkte ihm ein Lächeln. "Haben Sie davor Angst?"

Er gab sich nicht mal Mühe, das Lächeln zu erwidern. "Ja, habe ich. Warum sollte Gott etwas, das er so lange für sich behalten hat auf einmal jemanden zeigen wollen? Außer wenn's eh schon egal ist." Dann schlich er zur Tür. "Wiedersehen, Herr Doktor."

"Früher oder später bestimmt."

Hinter ihm fiel die Tür zu. Ich hatte ihn doch nicht verschreckt? Polizisten hatten so ein fürchterlich dünnes Nervenkostüm.

Ich schnitt den Kopf auf und legte das Hirn frei. Wurde Zeit, daß ich mich mit jemand Vernünftigem unterhielt. Wie jedes Mal drängte sich mir die Erinnerungen an den ersten Fall auf, und an das eine Wort, das ich nie ganz verstanden hatte. Jedes Detail lief vor meinem inneren Auge auf und ab, aber selbst heute machte es noch keinen Sinn. Vielleicht hatte sich der Vorgang deswegen für immer in mein Gedächtnis geritzt.

Das Innere meines Magens flackerte auf wie entzündetes Petroleum. Seit Tagen schon hatte ich nichts mehr gegessen. Früher oder später würde mein Körper anfangen, sich selbst zu verdauen. Es wäre unfair, es soweit kommen zu lassen. Morgen würde ich etwas essen, ganz bestimmt.

+++

Das Leben war nicht einfach. Also, warum sollte der Tod es sein? Die Prozedur war mein Meisterwerk. Niemand auf der Welt konnte sie kopieren, weil niemand auf der Welt sich der bloßen Möglichkeit bewußt war.

Die Maschine wurde an das Kurzzeitgedächtnis angeschlossen und stimulierte es. Mit genügend Energie reizte es dann die verbliebenen motorischen Neurone zur Ansteuerung der Sprachmuskeln. Der Rest lief wie von selbst. Dieser Vorgang war von zerstörerischer Natur und deswegen nicht wiederholbar. Außerdem war er medizinisch betrachtet totaler Humbug.

Die Steuerung der Sprache war ein so unglaublich komplizierter Akt, daß man sich bis heute über die Bandbreite der notwendigen Strukturen noch nicht ganz sicher war. Daß davon abgesehen sämtliche beteiligte Strukturen nach vier Tagen Unterversorgung noch erhalten sein sollten, war mehr als unwahrscheinlich. Das Experiment dürfte eigentlich gar nicht funktionieren. Und doch tat es das. Ich tat es. Wie jeder gute Wissenschaftler der Geschichte hatte ich die Theorie durch die Praxis widerlegt. Ich wußte nicht wie es funktionierte oder warum, aber ich wußte, daß es funktionierte.

Allerdings waren der Prozedur Grenzen gesetzt. Nach vier Tagen war der Körper in jedem Fall unbrauchbar. Auch der Wirkungsmechanismus war eingeschränkt. Alles was ich tun konnte, war lediglich die letzten erlebten Sekunden des Toten zu verbalisieren. Darum war auch die Polizei so begeistert. Wer ist schon ein besserer Zeuge als das Opfer selbst?

Das Hauptproblem war nicht mehr der Vorgang, sondern die Sprache der Toten. Sie ergab einfach keinen Sinn. Vielleicht waren die Erinnerungen von Emotionen so stark verklärt worden, daß jede Objektivität vergeblich gesucht werden mochte. Vielleicht hatte ihr Verstand das Gedächtnis auch rückwirkend gelöscht oder verändert. Oder vielleicht war das Projekt einfach kompletter Schwachsinn. Oder alles drei.

Entweder ich fand es jetzt heraus oder nie. Die nächste Leiche war bereit. Wir würden sehen, ob sein letzter Gedanke wirklich Gott gegolten hatte.

"Sprich mit mir."

"Schrill in meinem Kopf... kein Wind im Tunnel... düstere Luft durch mich in das Licht... brennt es kalt... es ist nicht er, der mich in die Sonne zieht... es tötet mich... so kalt..."

Es war absolut still im Raum. Seit Stunden schon. Keiner von uns sagte ein Wort. Ich saß nur auf dem Stuhl und starrte die beiden an. Nichts von dem was sie gesagt hatten machte Sinn. Ich verstand es einfach nicht. Möglicherweise war es tatsächlich nicht für die Ohren Lebender gedacht. Es war ihre eigene Sprache. Wie ein Geheimcode.

Auf keinem Fall konnte man mit diesem Gelaber einen Mörder fangen. Es sah so aus, als hätte ich den Wert des Projektes leicht überschätzt. Es würde den Bullen überhaupt nicht gefallen.

Das war Unsinn. Alles war genau vorbereitet gewesen, nichts hatte ich dem Zufall überlassen. Ich konnte hier nicht aufhören, auf keinen Fall. Ich ließ mich nur davon irritieren, daß dies hier kein medizinisches Problem mehr war. Statt dessen war es ein menschliches.

Da war doch noch jemand, den ich besuchen wollte.

+++

Katrin war wach, als ich ins Zimmer trat. Sie blickte mich an und ich wußte, daß sie sofort verstand. Ich war nicht wegen ihr gekommen.

Sie ließ es mich spüren. "Kommst du mich besuchen, Mark?"

Es war zu spät. Ich konnte nicht einfach wieder gehen.

"Sieht so aus." Der Stuhl neben dem Bett war leer.

Sie stellte das Rauschen des Fernsehers leiser als ich mich setzte.

"Früher bist du ständig an meinem Bett gesessen, wenn ich krank war," sagte sie. Ich erinnerte mich vage. "Du bist da gesessen und hast gesagt, daß alles gut wird. Du hast gelogen."

Ich sagte nichts.

"Hast du eine Zeitung mitgebracht?"

Ich schüttelte den Kopf. "Nein."

"Schade. Ich wollte was nachlesen. Die Maul- und Klauenseuche ist ausgebrochen, weißt du? Kannst du dir das vorstellen? Maul- und Klauenseuche. Und es gibt wieder Krieg. An der Ostgrenze. Die Tschechen. Wahrscheinlich sind sie sauer wegen der Maul- und Klauenseuche."

"Tut mir leid. Das nächste Mal denk ich dran."

"Warum bist du so?" Ihre Stimme wurde laut. Ihre Augen begannen zu schimmern. Ich wollte nicht hier sein. Warum hatte ich nicht einen Assistenten gefragt.

"Es läßt dich total kalt, was hier passiert! Ich sterbe und du kannst nur da sitzen und den Gleichgültigen spielen!"

"Soll ich lieber gehen?"

"Nein! Du sollst bei mir sein!" Sie nahm meine Hand. Sie fühlte sich kalt an. "Wir hatten doch mal so viel. Es kann doch nicht einfach alles verschwunden sein."

Unsere Blicke trafen sich. Ihrer war hilflos und elend, meiner neutral und etwas trüb. Aber ich sah nichts mehr in ihr. Nicht mal mehr eine gemeinsame Vergangenheit. Irgendwie war es rückwirkend ausgelöscht worden. Ich wußte genau, wer sie war, aber ich liebte sie nicht. Ich haßte sie auch nicht. Ich hatte keine emotionale Verbindung zu ihr.

Viel zu spät zog ich meine Hand zurück. Ich wollte nicht von ihr berührt werden. Es fühlte sich seltsam an. Nicht fremd und nicht freundlich. Wir hatten einen irreversiblen Zustand erreicht. Von hier aus gab es keine Weiterentwicklung, nur noch den Weg weiter nach unten. Ihre Fingernägel waren brüchig.

"Laß mich," murmelte ich. "Es ist besser, wenn ich gehe..."

"Nein, nein!" Ihre Traurigkeit wich Verzweiflung. Das hätte ich kommen sehen müssen. Es war ein System, das ich nur zu gut kannte. "Du kommst doch nicht ohne Grund hierher! Jeden Tag. Ich weiß, daß ich dir noch etwas bedeute. Was soll ich tun?"

Diese Art Gespräch war sinnlos und zerstörerisch, das wußte ich noch von damals. Aber ich ließ mich immer wieder mit hineinziehen. Sogar jetzt noch.

"Du kannst nichts tun. Es gibt nichts mehr zu tun. Ich habe nichts gegen dich, Katrin. Aber wir haben nichts mehr. Wir sprechen nicht die gleiche Sprache, haben wir noch nie."

Ihre Unterlippe zitterte. "Aber mit Leichen sprichst du oder wie? Ihr versteht euch. Macht dir das gar keine Angst? Diese Menschen sollten tot sein und tot bleiben! Sie sollten nicht zurück kommen, da stimmt etwas nicht. Hör auf damit und komm zu mir zurück. Bitte."

Ich stand auf. Ohne es zu wissen, hatte sie alles entschieden, ein Urteil gesprochen. Ich brauchte nur der Entscheidung zu folgen.

"Du hast recht. Ich hätte nicht zurück kommen sollen."

Und so verließ ich das Zimmer.

+++

Auf dem Gang hielt ich den Stationsarzt an. Ich war immer noch hier um jemanden zu besuchen. Sein Gesicht kam mir vage bekannt vor.

"Tschuldigung. Die Dame, die gestern hier auf die Operation wartete, ich habe angewiesen, daß man sie in dieses Zimmer verlegt. Sie ist nicht hier. Wo ist sie?"

Es bestand natürlich die Möglichkeit, daß sie auf dem OP-Tisch gestorben war. Ihre fatalistische Einstellung war sicher nicht grundlos gewesen. Und doch hatte ich nicht das Gefühl, daß dies hier der Fall war.

"Wie ist ihr Name?" fragte er. Sein Name war Tress. Dr. Victor Tress. Es stand auf seinem Kittel.

"Ich weiß es nicht," gab ich zu. "Es wäre aber wichtig."

Er nickte nachdenklich, zog einen Stationsplan aus der Tasche. Auf einmal hob er seinen Blick zu meinem.

"Sagen Sie mal, kenn' ich Sie nicht?" Er lächelte. "Sie sind Dr. Moreth, nicht? Ich hab doch recht?"

Ich gab ihm ein konfirmierendes Halbseitenlächeln.

"Erinnern Sie sich nicht? Ich habe bis vor einem Jahr noch in der Frauenklinik gearbeitet. Sie waren mit Ihrer Freundin da." Er dachte nach. "An ihren Namen kann ich mich nicht mehr erinnern." Dann fiel ihm etwas anderes ein. Ich wußte, was es war. Es lag an seinem stummen Ausdruck. "Sie hatte einen Unfall, nicht wahr?"

Verrückt, wo einen die Vergangenheit einholt. Andererseits... nein, eigentlich nicht.

"Eine Totgeburt," sagte ich. Und damit hatte ich das Gespräch zum Erliegen gebracht. Er wußte nicht, was er noch erwidern sollte. Hoffentlich ersparte er sich das amerikanische "Das tut mir leid".

"Das tut mir-"

"Sie wollten mir sagen, wo die Patientin liegt."

Er freute sich, über die Unterbrechung und den Themenwechsel. Und ich freute mich, bald aus seiner Reichweite zu sein.

"Ja, hier steht es. Frau Diana Gorgi. Sie ist auf Zimmer 227."

"Warum?"

"Nun, sie war wohl etwas aufgebracht. Wir mußte sie beruhigen. Nach der OP war sie ziemlich verwirrt. Nein, panisch verängstigt ist der bessere Ausdruck. Wir mußten sie auf Morphium setzen. Sie schläft jetzt."

Ich ertappte mich dabei, wie ich mir Sorgen machte.

"Ist etwas schief gelaufen?"

"Verdammtes Glück hat sie gehabt. Sie war fünf Minuten klinisch tot. Und das Problem ist behoben."

Was zu diesem Zeitpunkt durch meinen Kopf ging war mir selbst ein Rätsel.

"Danke."

In Zimmer 227 war es so ruhig wie in einem leeren Raum. Alle vier Betten waren besetzt, aber keine der Patientinnen machte ein Geräusch. Selbst das Atmen mußte man sich mit viel Phantasie einbilden. Sie hatten sie also in die Zombie-Abteilung gesteckt.

Diana lag am Fenster. Die Nachmittagssonne bleichte ihr Haar aus. Im Schlaf schien sie vor den Strahlen zurückzuweichen. Die friedliche Mimik war aus ihrem Gesicht verschwunden. Es zeigt nur noch Angst.

Etwas niedergeschlagen verließ ich das Zimmer und ging zurück zu meinen Leichen.

Vor dem Zeitungsautomaten blieb ich unwillkürlich stehen, als hätte ein Instinkt mich halten lassen. Castor-Transport aufgehalten - radioaktive Strahlung über Mitteldeutschland. Nein, es war der Automat selbst, der mich nachdenklich machte. Er hatte etwas ausgelöst, einen kreativen Vorgang in meinem Kopf. Ich hatte eine Idee.

Der Automat war für mich eine Art metaphorischer Wendepunkt. Entweder ich folgte meiner Routine oder ich ging einen Schritt weiter, und es wurde mir bewußt, daß ich diesen Schritt nur jetzt machen konnte. War dieser Augenblick einmal vergangen, vermochte ich ihn nie zurück zu holen.

Die Tatsache, daß mir diese Entscheidung nicht schwer fiel, würde mich sicher noch ewig verfolgen.

Ich nahm eine Zeitung aus dem Automaten. Flüchtig wurde ich von der Reflexion der Sonne erwischt. Dann ging ich zurück zum Krankenhaus. Es war Montag.

+++

Unter dem konstanten statischen Rauschen des Fernsehers mochten meine Schritte bleiern wirken. Vielleicht lag es auch nur an mir. Es war ein Testbild.

"Hallo." Lächeln war nicht sinnvoll. Es hätte so unehrlich gewirkt wie ein Heiratsantrag. Man mußte das verstehen. Katrin wollte mich zwar mit allen Mittel zurück haben, aber dennoch rechnete sie nicht wirklich mit Erfolg. Der Weg war das Ziel. Unser Kampf war ein Ritual, ums Gewinnen ging es schon lange nicht mehr. Aber ich konnte ihr etwas mehr Hoffnung gewähren.

Ihr Blick war aufmerksam. Sie kannte mich fast genauso gut wie ich sie. Was ich hier tat entsprach nicht meiner Art. Es funktionierte nur, weil sie es glauben wollte.

"Hallo."

Ich ging zu ihr, visierte den Stuhl an, zögerte und setzte mich auf das Bett.

"Wie geht es dir?"

"Interessiert es dich?"

"Ja." Demonstrativ plazierte ich die Zeitung auf ihrem Nachttisch. Dadurch gab sie nach.

"Ganz gut, denk ich," murmelte sie. "Meine Haare fangen wieder an zu wachsen. An all den falschen Stellen. Und ich kann mir noch nicht mal die Beine rasieren."

"Da kann man sicher was machen," meinte ich. "Ich habe ganz guten Kontakt zu dem Pflegepersonal."

"Weißt du, wenn mir die Haare wieder wachsen und ich gut esse... vielleicht muß dann ich gar nicht sterben."

Wollte ich in meiner Intention konsequent sein, mußte ich sie jetzt anlügen und ihr beipflichten, daß sie recht haben könnte. Es war eine harte Lüge, denn das Todesurteil war ihr ins Gesicht geschrieben, mit ihrem eigenen Blut. Diese Frage hatte sie mit Bedacht gewählt. Sie wollte mich testen. Ich ging halb darauf ein.

"Vielleicht." Das war mehr als sie unter anderen Umständen je von mir bekommen hätte. Unter anderen Umständen hätte sie mich dafür mit ihrem Blick eingefroren. Aber unter diesen Umständen war sie zufrieden.

"Wir hatten eine schöne Zeit zusammen, du und ich. Und manchmal," ihre Finger streichelten meine Hand, "manchmal hatten wir uns auch richtig lieb."

Ich ließ es geschehen. "Manchmal."

"Meinst du, du kannst mich noch einmal lieb haben?"

Nein, ich konnte das nicht. Meine Hand verschwand in meiner Hosentasche.

"Deswegen bin ich nicht hier."

Angesichts dieser Worte zog sie sich wieder ein Stück zurück. Sie war in der Defensive. Die Worte waren an sich unwichtig, es war klar, daß ich nicht deswegen hier war. Der Ton weckte ihre Aufmerksamkeit.

"Warum bist du hier?"

"Ich will dich um einen Gefallen bitten. Du schuldest mir einen."

Vor einiger Zeit hatte ich ihr den zweifelhaften Dienst erwiesen, bei ihr Krebs zu diagnostizieren. Diesen Dienst hatte sie mir bis heute nicht zurück zahlen können. Es war unorthodox, aber sie wußte, daß es stimmte. Sie wußte auch, daß es nichts angenehmes sein würde.

"Was für einen Gefallen?"

"Ich will dich nach deinem Tod sprechen lassen."

Man mußte ihre Reaktion einfach respektieren.

"Mach, daß du raus kommst." Aber so einfach war das nicht.

"Es ist die einzige Möglichkeit, die einzige echte Chance, die ich habe." Eine Sekunde lang spielte ich mit dem Gedanken, ihre Hand zu nehmen, entschied mich dann aber doch gegen diese Taktik. "Ich kenne dich besser als jeden anderen Menschen. Deine Worte hätten für mich eine Bedeutung, sie wären der Schlüssel zu dem Geheimnis. Das wäre das Ende dieser Arbeit und sie könnte Tausenden von Menschen das Leben retten."

"Du kennst mich doch jetzt schon nicht mehr, Mark. Du verstehst gar nichts."

Sie versuchte, wütend zu klingen, aber in Wirklichkeit war sie nur traurig. Sie hatte aufgegeben.

"Doch, das tue ich," sagte ich. "Ich gehe nur nicht darauf ein."

"Du Dreckskerl."

"Katrin," ich weiß gar nicht mehr, wann ich das letzte Mal ihren Namen im Mund gehabt hatte, "es ist zum Wohle unzähliger Menschen, nicht zu meinem. Im Gegensatz zu uns bedeutet das etwas. Es hat einen Sinn. Außerdem," möglicherweise war es moralisch zwiespältig, das zu sagen, "du wirst sterben. Du wirst tot sein. Du wirst nichts mehr spüren, weil dein Körper dann leer ist."

Ihre Augen waren wieder feucht, aber diesmal war es eine andere Art Tränen. Es mochten ihre letzten sein.

"Ich hasse dich."

Das hatte sie noch nie zuvor zu mir gesagt. Auch in den schlimmsten Stunden unserer Beziehung hatte sie das nie sagen können. Es hatte sich etwas verändert. Das hier war ihr Wendepunkt.

"Ich werde es tun."

Ich war nicht überrascht.

"Danke."

Dann ging ich hinaus. Jedes weitere Wort wäre überflüssig gewesen.

Sie starb am nächsten Tag. Ich war nicht bei ihr. Es kam überraschend, keine Vorankündigung jeglicher Art. Sie ging still. Fast so als wollte sie mir einen Gefallen tun.

+++

Ihren toten Körper zu bearbeiten fühlte sich eigenartig an. In manchen Momenten glaubte ich eine Verbindung zu ertasten, die ich schon lange nicht mehr zu ihr gehabt hatte. Sie war hier, um mir zu helfen.

Die Vorbereitungen waren inzwischen zur Routine geworden. Ich schloß die Maschine an das Kurzzeitgedächtnis an, berechnete wieviel Strom ich für die Mobilisierung der Sprechwerkzeuge brauchte, pumpte Luft in die Lunge und betätigte den Schalter. Und dann würde sie mit mir sprechen.

In meiner Vergangenheit redete eine andere Leiche stumm vor sich hin, mit Worten die mir entglitten. Vielleicht würde ich jetzt endlich mehr erfahren. Meinen Fehler wieder gut machen.

Die Maschine begann regelmäßige Stromschläge in den Kopf zu schicken, bis er sichtlich vibrierte. Ihre Lippen zitterten erwartungsvoll. Gebannt sah ich auf den Mund, bereit, jedes einzelne Wort in mich aufzunehmen. Es dauerte nur Sekunden.

"Das dunkle Licht, es kommt zu schnell... ich schwebe hinauf... es ist so schrecklich kalt. Und es ist schwarz. Seine Augen sind schwarz. Sieh mich nicht an! Sieh mich nicht an! Nicht das Dunkle. Bitte. Nicht das Dunkle. Es ist so kalt. Ich will nicht zurück. Bitte..."

+++

Ich war wieder da, wo ich angefangen hatte. In der Stille hörte ich mich selbst atmen, aber es war ein erschreckend leises Geräusch und klang ungewohnt gedämpft. Ich zog die Luft tief ein, um mich von der Existenz meines Atems zu überzeugen. Er quälte sich durch meine Lungen und hinterließ einen trockenen Nachgeschmack in meinem Mund.

Meine Finger waren kalt, ich spürte sie kaum. Ich führte sie zu meinen Lippen und betastete die Risse in ihnen. Sie waren taub und trocken.

Irgendwo in der ferne meines Körpers schlug mein Herz, langsam und kaum merklich. Immer dezenter.

Dieser Zustand war für mich nicht neu, er kam gelegentlich und verschwand wieder. Ich wußte, wenn ich jetzt aufhörte zu atmen, würde ich es nicht mal merken. Auch mein Herz würde keine Notiz nehmen von dem fehlenden Sauerstoff. Es würde weiter schlagen, bis auch das keinen Sinn mehr machte. Dann würde es einfach aufhören.

Aber so weit war ich noch nie gekommen. Etwas hatte mich immer abgehalten. Meine Atmung setzte wieder ein und mein Herz wurde lauter. Ich hatte nie herausgefunden, ob ich auf diese Weise sterben konnte.

Die Leichen lagen vor mir, stumm, sie hatten genug gesagt. Ich konnte sie nicht verstehen und irgendwie fühlte ich mich deswegen schuldig. Dabei schien die Antwort fast greifbar zu sein. Im tiefen Inneren meiner Seele ergaben die Worte ein Bild. Nur war das Bild unfertig, zerschnitten und über tobendem Wasser verstreut. Mir fehlte die Schablone, das verborgene System, die Methodik, die alles in die richtige Ordnung brachte. Ich war sicher, daß es eine gab. Nur konnte ich sie mit meinen Augen nicht wahrnehmen. Ich konnte nicht sehen, was sie sahen.

Lange hatte ich darüber nachgedacht, was die Toten mir zu sagen versuchten. Vielleicht hatte ich ihnen nicht die richtige Frage gestellt. Oder die Antwort war in vielen Eindrücken verborgen, betäubt durch den Schmerz der Erinnerung. Sie wollten sich womöglich gar nicht erinnern und wichen meinen Fragen aus. Ich konnte ihnen dabei nicht mal in die Augen sehen.

Nein. Ich hatte ihre Sicht der Dinge nicht. Ich dachte nicht wie sie. Mein Blickwinkel war falsch, meine... Perspektive.

Ich stand auf und ging in die hintere Ecke des Raums, vorbei an den in Formalin schwimmenden Präparaten von Organen. Vor dem polierten Metall eines Seziertisches blieb ich stehen.

Ich zog mich aus und verschloß meine Kleidung in einem Plastikbeutel.

Dann legte ich mich auf den Tisch.

Der Stahl drückte kühl und blendend gegen meine Haut. Auf paradoxe Weise gab es mir den Eindruck, ich würde schweben. Kälte breitete sich in meinen Gliedern aus bis sie schwer wurden. Ich hörte auf zu atmen und öffnete die Augen.

Und ich war geblendet von dem kalten Licht, das über uns schien.

Als ich wieder aufstand spiegelte sich mein Körper im Stahl des Tisches. Auf meinem Rücken waren einige Abdrücke. Ein Brennen durchzuckte meine Eingeweide, und ich beugte mich über das Waschbecken, um mich zu übergeben.

Die grünliche Flüssigkeit auf der Keramik sah ungesund aus. Kein Würgereiz. Es kam einfach so aus mir raus.

Ich wandte mich ab und beschloß mich anzuziehen. Die kalte Luft in diesem Raum ließ mich schon zittern. Ich sollte endlich etwas essen.

+++

Von der Kälte benommen und doch klarer im Kopf als zuvor wankte ich hinaus auf die Straße. Meine Beine widersetzten sich mir stetig, als wollten sie am Boden fest wachsen. Es war mittag. Das Licht war unwahrscheinlich hell, weiß und unerbittlich. Wie eine Schicht aus bleichem Staub legte es sich über Gebäude und Menschen. Es brannte mit einer Kälte auf uns herab, daß man sich nicht traute nach dem Ursprung zu fragen, oder ihn zu erraten, noch trauten wir und den Ursprung unserer Furcht anzusehen.

Zum allerersten Mal blickte ich auf und sah in das Licht am Himmel. Doch es war nicht die Sonne, die ich sah. Es war etwas anderes.

Noch lange blickte ich dorthin und mit jeder Minute wurde das Bild deutlicher. Ich begriff, was die Toten sagen wollten, als ich den schwarzen Kern des Lichts erfaßte. Finster und grinsend starrte es auf uns herab. Die Sonne war nicht mehr da.

Eigentlich hatte ich damit gerechnet danach so gut wie blind zu sein, aber das war ich nicht. Im Gegenteil, ich sah besser denn je. Im übertragenen Sinne natürlich. Die Straße zeigte mir ihr wahres Gesicht. Ich sah uns alle unter einem grausamen Licht, dessen Zentrum dunkler war als jede Nacht, ein allumfassender Schatten. Und ich erinnerte mich daran, etwas ähnliches schon einmal gesehen zu haben. Oder nein, ich hatte nur davon gehört. Auf eine klischeehafte Art und Weise ergab es einen Sinn.

Als das Licht kurz flackerte, erhöhte ich mein Tempo, weil ich nun sicher wußte, daß nicht ich es war, der blinzelte. Mein Weg führte mich ins Krankenhaus, zu dem einzigen Menschen, der mir helfen konnte all das zu verstehen, denn das tat ich noch nicht. Aber ein tiefes, wachsendes Gefühl von Furcht versprach mir, daß ich nahe dran war.

Unterwegs kam ich an einem Zeitungsautomaten vorbei. Euro Werk Satans? Es war Dienstag.

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Ich hielt den nächstbesten Arzt an, der mir entgegen kam und deutete auf das Zimmer.

"Ich muß mit dieser Patientin sprechen."

Er war etwas verwirrt, aber er erkannte mich, deswegen widersprach er nicht.

"Sie können es gern versuchen. Sie ist bei Bewußtsein. Aber sie wird nicht mit Ihnen reden. Sie redeten überhaupt nicht."

"Doch das wird sie. Bei mir fangen selbst Tote an zu reden."

Ich wollte schon hinein gehen, da hielt er mich noch mal zurück.

"Sie sollten wissen, daß wir sie erst vor ein paar Stunden wieder einweisen konnten."

Ich überlegte genau, ob das was ich gerade gehört hatte einen Sinn ergab.

"Was?"

Er blickte mich ernst an. "Sie wissen es nicht? Sie ist heute geflohen. Sie hatte enorme Angstzustände, glaubte der Tod käme zurück um sie zu holen. Eine Streife fand sie zusammengekauert im Schatten eines Müllcontainers. Sie war nackt. Wir haben ihr Beruhigungsmittel gegeben, aber es nutzt kaum etwas. Wenn es so weiter geht wird sie die Nacht nicht überleben."

Nach all dem was ich erfahren hatte, war es schwer, diese Information auch noch in mich aufzunehmen. Ich wußte nicht, warum es passiert war oder was es bedeutete. Sie würde es mir erklären müssen.

Ich ging in das Zimmer.

Man hatte die Fenster mit schweren Vorhängen abgedunkelt, aber es drang nach wie vor Licht durch kleine Spalten hindurch, hing in der Luft und streifte den Boden. Bis auf sie war das Zimmer verlassen und größtenteils leer. Es erinnerte mich an meinen Arbeitsplatz, vor allem der Geruch.

Ich schloß die Tür hinter mir und wartete auf eine Reaktion. Sie saß da und starrte unentwegt auf das vermummte Fenster, als hätte sie Angst, es könnte jede Sekunde etwas durch das Glas brechen.

"Ich habe in die Sonne gesehen," sagte ich ohne Umschweife. Ich wußte, daß sie mich verstand. "Sie ist nicht mehr da." Keine Reaktion. Ich ging einen Schritt weiter. "Es war die Sonnenfinsternis, nicht wahr? Die Sonne ist untergegangen." Jetzt hatte ich etwas zucken gesehen. "Sie verschwand für ein paar Minuten und kam nicht mehr zurück. Alle haben zugesehen, aber niemand hat es gemerkt."

Vor ihrem Bett blieb ich stehen. Sie konnte nicht an mir vorbeisehen.

"Niemand wollte es wahr haben. Und jetzt sitzen wir hier und frieren unter... was auch immer das da oben ist."

Mein Augen zwangen sich in ihr Blickfeld. "Die Sonne ist weg."

Jetzt sah sie mich. Sie hatte alles gehört und verstanden. Sie kannte das Geheimnis.

"Nein," sagte sie ruhig. "Sie irren sich. Die Sonne ist noch genau da, wo sie immer war. Wir sind es, die nicht mehr da sind."

Sie lehnte sich zurück, lag auf ihrem Bett, den Blick zur Decke.

"Als ich auf dem Operationstisch starb, merkte ich, wie ich von meinem Körper weg flog. Ich hatte schon davon gehört, im Fernsehen. Leute erzählen von Nahe-Tot-Erfahrungen. Daß sie auf ein helles Licht zusteuern, sich warm und sicher fühlen und all das. Aber ich nicht. Ich fühlte mich nicht warm und sicher. Denn das Licht, daß ich sah war ganz schwarz. Dunkel und kalt. Zunächst dachte ich, es wäre die Sonne. Aber ich erinnerte mich zurück, und die Sonne war nie so blaß und grausam gewesen. Dieses... Ding war nicht die Sonne.

"Und dann stoppte es irgendwie. Und ich erkannte, daß ich immer noch hier war. Daß ich immer noch bei meinem Körper war und ihn fühlte, fühlte wie er kalt wurde und still. Fühlte wie ich tot war. Niemand sollte so etwas fühlen müssen, niemand.

"Ewigkeiten lag ich so da, bevor man mich zurück holte. Ich war glücklich darüber, aber meine Angst ertränkte jedes andere Gefühl. Ich wollte nur weg von hier. Aber die Wahrheit ist nun mal, daß es keine Flucht gibt."

Minuten lang hörte ich ihrem Schweigen zu, bevor mir klar wurde, daß dies das Ende ihrer Geschichte war.

"Was bedeutet das? Was ist mit der Sonne?" Mein Halbwissen machte mich krank. Ich wollte endlich erfahren, wo ich stand. Nur sie konnte es mir erklären.

Ihr Lächeln beunruhigte mich. Es war nicht angemessen in so einem Moment zu lächeln. Es erweckte den Eindruck von Ausweglosigkeit.

"Mit der Sonne ist nichts. Aber mit uns. Nicht die Sonne ist verschwunden, wir sind nicht mehr da, wo wir einst waren. Ich konnte nach meinem Tod nicht ins Jenseits reisen, weil wir schon im Jenseits sind. Von hier aus gibt es keinen Weg weiter und keinen zurück. Wir sind alle hier und hier werden wir bleiben. Und wenn wir sterben, werden wir in unseren Gräbern liegen und frieren."

Sie starrte wieder zum Fenster.

"Deswegen habe ich Angst vor dem Tod."

Ich wollte sie berühren, tat es aber nicht. Ihr Wissen und ihr Verständnis um ihr Wissen stießen mich ab, wie eine nicht ansteckende Krankheit, vor der man flüchten wollte, damit es einfacher war sie zu ignorieren. Und doch zog mich das morbide Interesse immer wieder zu ihr zurück.

"Was ist am Himmel?" fragte ich.

Aber sie schwieg.

+++

Wenn man des Rätsels Lösung kannte, war alles offensichtlich. All die Hinweise, die man bisher übersehen hatte, als unwichtig klassifiziert, gaben plötzlich einen Sinn. Alles ergab einen Sinn. Es war so verdammt offensichtlich.

Wir sitzen immer noch hier und glauben, wir wären am Leben. Dabei sind wir nur wandernde Leichen, auf dem Weg ins kalte Licht. Auf all die Fragen wie "Warum passiert so etwas?" oder "warum ist die Welt so?" kann man nun eine ganz einfache Antwort geben. "Weil wir im Jenseits sind. Wir sind zur Hölle gefahren. Hier ist alles möglich."

Am 18. August 1999 verschwand die Sonne für ein paar Minuten. Für immer. Was wieder erschien war etwas anderes, und ich habe nie erfahren, was es ist. Vielleicht ist das auch ganz gut so. Früher oder später werden wir es alle wissen. Wenn es schließlich unausweichlich wird, daß wir unsere Augen öffnen und es ansehen.

So hatten wir uns das sicher nicht vorgestellt. Die Welt war untergegangen und keiner hatte es gemerkt. Keinen hatte es interessiert. Nur die Toten wußten es, aber sie sprechen nicht mit uns.

Meine Erinnerung verblaßt langsam, und auch das paßt hervorragend ins Bild. Alles was bleibt ist die letzten Worte eines Toten. Ich bedauere, daß ich nie fragen konnte, was er damit meinte.

Aber vielleicht ist auch das ganz gut so. Man sollte die Toten nicht wecken.

Ende.