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Das Verdammte 11. Jahr.

Diese Geschichte ist leider nur als Fragment vorhanden und bleibt deswegen unvollständig.

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-tte ich wirklich die Nase voll von dieser Stadt und allem anderen auch. Meine Frau verstand es nicht und dafür verabscheute ich sie. Nein. Eigentlich haßte ich sie. Ich wußte genau, daß ich sie verlassen würde. Und die Kinder. Ach, sie konnte sie behalten. Kinder. Sie sind so angenehm, so lange sie klein sind, einen mit ihrem zahnlosen Lächeln anstrahlen und irgendwann ein "Papa" von sich geben, etwas unentschlossen, ob sie es sagen oder sabbern sollen. Doch auch sie ändern sich, wie alles andere auch. Sie fangen an, in dir eine Autorität zu sehen, und dann eine Bedrohung, und dann fangen sie an, dich zu hassen. Und selbst, wenn man versucht, es mit Freudianischen Mitteln weg zu erklären, in der Hoffnung, daß es an Härte ab und an Harmlosigkeit zunimmt, fühlt man sich nicht besser. Man weiß, daß man gehaßt wird, und das ist kein gutes Gefühl. Also haßt man zurück. Ja, ich hasse auch meine Kinder. Elf Jahre war ich nun mit meiner Frau verheiratet. Manche sagen, daß Haß und Liebe nah beieinander liegen. Haufen Scheiße. Haß zerstört nicht nur jeden Rest von Liebe, sondern auch noch jede Hoffnung auf Liebe vollständig. Haß und Liebe. Sie sind nicht wirklich kompatibel.

Also verließ ich München.

Ich bezweifle, daß ich wirklich einen festen Zufluchtsort im Kopf hatte, als ich ins Auto stieg. Ich wußte nur, daß ich möglichst weit weg wollte, am besten weg aus Deutschland. Eine Zufallsvariante (das glaubte ich damals zumindest) brachte mich auf eine Route Richtung Süden. Österreich. Ungarn. Italien...

Italien. Warum nicht Italien? Es war nicht so weit weg, wie ich ursprünglich wollte, aber es war ein Anfang. Vielleicht würde ich von den Alpen aus langsam zur Stiefelspitze pilgern, um dort dann meinen Wagen gegen ein Schiffsticket einzutauschen, wer weiß. Oder ich würde einfach eine Weile dort bleiben. Da mich ohnehin niemand verstehen würde (denn ein Italiener, der auch nur das geringste auf seine Herkunft gab, würde sich niemals dazu herablassen, etwas anderes zu sprechen als Italienisch), mußte ich auch mit niemandem sprechen. Ausgezeichnet. Möglicherweise könnte ich aber von Rom aus einen Flug nach Afrika erwischen. Ich war noch nie in Afrika. Mal sehen.

Doch soweit kam ich gar nicht. Seeluft und Sonne zogen mich unbarmherzig nach Venedig, die Sommerstadt, meiner Meinung nach. Als Kind war ich oft hier gewesen. Nein, eigentlich nicht oft. Ich erinnerte mich kaum. Dieses Gefühl bestätigte sich, als ich mich der Stadtgrenze näherte und mir nichts auch nur im geringsten Maße vertraut vorkam.

Ich passierte die Brücke und den Hafen. Keine Erinnerungen aus meiner Jugend strömten zu meinem inneren Auge. Keine filmreifen Archivszenen wollten sich mir zeigen. Es war alles fremd für mich. Fremd und neu. Aber war das nicht genau das, was ich wollte? Ja. Das war es wohl. Eigentlich war ich nicht wirklich überrascht. An was hätte ich mich auch erinnern sollen? Damals hatte auf mich vieles so übermenschlich groß gewirkt, daß ich jedesmal Angst hatte, nur von den Schatten allein schon erschlagen zu werden.

Der Punkt war, ich fühlte mich wie ein Tourist, jetzt schon. Aber eigentlich konnte mir das egal sein. Ich hatte ja ohnehin nicht vor, zu bleiben.

Mein Auto fand in einem der vielstöckigen Parkhäuser am Buszentrum Platz. Venedig selbst war von Fahrzeugen jeder Art bis heute verschont geblieben. Sie alle mußten am Piazzale Roma ruhen oder Kehrt machen. Eine irreal erscheinende Vorstellung, bis man es selbst gesehen hat. Ich parkte ganz oben. Das häßlich altindustrielle Parkgebäude beschnitt mir zwar schon beim bloßen Anblick die Laune, aber ich hatte nicht wirklich eine Wahl. Jedoch lohnte sich der Verzicht auf Schatten dadurch, daß man von oben aus die gesamte Stadt überblicken konnte. Atemberaubend, hätte meine Frau wahrscheinlich gesagt. Ich fand es ganz nett.

Meine Kenntnisse der italienischen Sprache tendieren auf einer Skala von 1 bis 100 so gegen 0,5. Das bedeutet, daß ich Bitte und Danke gerade noch so ausmachen kann. Aber nur wenn die besagte Person langsam spricht. Auf der anderen Seite war Venedig eine sehr touristenübersehte Stadt. Und man sollte glauben, daß jeder Geschäftsmann auf Anhieb einen Bedarf an internationalen Sprachanforderungen einsähe und deswegen förderte. Jedoch waren das immer noch Italiener. Und jeder gebildete Mensch sprach doch Italienisch, oder? Demnach hatte ich also schon von vornherein die Verliererkarte (ein dreckig grinsender Joker, der im Spiel gar nicht vorgesehen war) auf der Hand. Egal. Ich wollte hier weder Wurzeln schlagen, noch neue Verbindungen knüpfen. Dies war reines Vergnügen. Dezente bis obszöne Handzeichen würden auf kurze Sicht genauso gut funktionieren.

Die erste Etappe meisterte ich mit Bravour. Mit Ticket in der Hosentasche drängelte ich mich auf das nächste Boot zum Piazza San Marco. Der Markusplatz. Das Touristenmekka schlechthin wohlgemerkt, und im Frühsommer natürlich gnadenlos überfüllt. Ich kam mir vor wie auf dem Footballfeld. Trotzdem genoß ich es, vielleicht sogar deswegen um so mehr. Denn obwohl ich den Wunsch hatte allein zu sein, konnte mir die Stadt ruhig dabei Gesellschaft leisten. Bald waren Sarah und die Kinder eine nörgelnde Blase am Rande meines eingestaubten Langzeitgedächtnisses. Nichts verband mich hier mit ihnen. Als hätten sie nie existiert. Ja. Vielleicht war genau das mein Gedankengang.

Ein starker Kaffee (wenn auch kein sonderlich guter, nach italienischem Standart) und ein Baguette bekamen meinem Gemüt besser, als jedes lebende Wesen jemals könnte. Ich hatte mir für eine nicht unerhebliche Summe eine Markensonnenbrille gekauft und kam mir richtig gut vor. So wie ich auf dem Platz saß und durch den Dom ins Nichts sah, mochte man fast meinen, ich hätte mit meiner Zeit nichts anzufangen. War auch so, ganz ehrlich. Was hätte ich tun sollen?

Der Turm vor dem Dom bot mir etwas widerwillig die Zeit an. Aus reiner Gewohnheit verglich ich die Zeit da oben mit der an meinem Handgelenk. Meine Uhr ging nach. Rolex. Sarah hatte sie mir zu Weihnachten geschenkt.

Bei Aufstehen öffnete ich das braune Lederarmband. Ich drückte die Uhr dem Nächsten in die Hand, der an mir vorbei kam. Ohne dem armen Kerl Zeit für Widersprüche zu lassen (die ich sowieso nicht verstanden hätte), machte ich mich davon. Die Ketten der Knechtschaft, sie sind nun von mir gefallen, sinnierte ich. Naja, zumindest trug sie jetzt ein Anderer.

Für kurze Zeit beschäftigte mich der Gedanke an eine Gondelfahrt. Ein recht träger Gedanke übrigens, wie alle Gedanken, die einem so in der Mittagssonne entgegen wehen. Ich entschied mich dagegen. Das wäre wahrscheinlich genau das gewesen, was Sarah als erstes vorgeschlagen hätte. Daß mir der Gedanke ganz automatisch gekommen war, stimmte mich sehr ärgerlich. Schlimmer war noch, daß ich im selben Moment wußte, daß sie sich darüber gefreut hätte, und ich mich schon im Geiste beim Einsteigen beobachten konnte. Ich fühlte mich beobachtet und belästigt. Möglicherweise haßte ich sie in diesem Moment mehr denn je. Sogar wenn ich allein war, ließ sie mich nicht in Ruhe.

Ich lief etwas kopflos durch die überlaufenden Gassen. Meine Gedanken ließen mich immer öfter und für immer längere Zeit im Stich. Gelegentlich mußte ich mich selbst daran erinnern, wo ich eigentlich war. Es war als litte mein Geist unter Zugluft.

So kam es, daß ich plötzlich allein dastand. Offensichtlich war ich in ein paar der verwinkelten Nebenstraßen gewandelt. Nun stand ich auf einem kleinen verlassenen Platz, zu dem vier Wege führten. Es war totenstill.

Man glaubt das nicht, wenn man es hört und nicht selbst miterlebt hat. Scheinbar war es nach fünf. Und außerhalb der Touristenzone war hier kein Mensch mehr auf der Straße. Hier lief das einfach so. Fünf Uhr, Feierabend. Ich war allein.

Die Luft hatte eine seltsame Konsistenz, schien es mir, und das Sonnenlicht war zugleich dünn und trüb. Unecht. Aber das bildete ich mir wohl nur ein. Die Gebäude um mich herum waren alle erdfarben und unbewohnt, bis auf eine unscheinbare, kleine graue Kirche im romanischen Stil zu meiner Rechten. Der Eingang war von Säulen bewacht, die von einigen kärglichen Rissen geziert wurden. Lächelnd stellte ich mir vor, wie ich später in alten Legenden über diesen Platz lesen würde. Im Schein einer altersschwachen Kerze würde ich herausfinden, daß schon so manche Bewohner Venedigs von einem Ort in ihrer Stadt zu berichten hatten, der verflucht war. Möglicherweise, sprach die imaginäre Quelle, wurde dort ein Heiliger ermordet, und in regelmäßigen Zeiten fand dann ein unschuldiger Passant auf mysteriöse Weise den Weg zu jenem Ort. Einige fanden auch den Weg zurück, doch einmal dem Ort entkommen, waren sie nie wieder in der Lage, ich erneut zu finden. Uhh. Wie gruselig.

Ich schüttelte den Kopf. Dieser Ort hier reizte mich nur wenig. Ich warf ihm noch einen müden Blick zu und schlenderte zurück zum Zentrum, wo es laut war und ich meine Gedanken nicht hören konnte.

Man brauchte nur den Schildern zu folgen. Sie führten einem von fast jedem Punkt der Stadt dorthin, wo man sein Geld gut ausgeben konnte. Wieder war ich in Gedanken. Widerwillig. Es gab genug zum Nachdenken, nur hatte ich einfach keine Lust auf diese Seelenfolter. Vielleicht später. Verdammt, wo war nur das verfluchte Zentrum...

Erst jetzt merkte ich, daß ich bereits vor dem Markusplatz stand. Er war völlig leer.

Ich konnte meine eigenen Schritte hören, als ich zur Mitte des Platzes ging. Nicht einmal die Tauben waren da. Die Tische der Cafes befanden sich nach wie vor an ihren vorgesehenen Stellen. Tassen und Gläser standen darauf. Wie im schlechten Mystery-Thriller.

Die Stadt weiter durchstreifend, wurde ich mir immer sicherer, daß ich der Einzige in Venedig war. Ich war mit der Stadt allein. Wie verführerisch.

Mit gesenktem Blick ging ich langsam zu dem kleinen Platz zurück, auf dem die Kirche stand. Ich fand beide ohne Schwierigkeiten. Ich starrte die Kirche an und die Kirche sah gelangweilt zurück. Dann näherte ich mich dem Eingang.

Die Inschrift an der Außenseite fehlte. Ich erkannte jedoch die Stelle, die für sie vorgesehen war. Sie war schwarz und verkohlt. Kein Datum.

Die dunkle Holztür sah warm aus in dieser Entfernung. Ich wußte natürlich, daß ich diese Qualität niemals hätte sehen dürfen, dennoch war es mir vollkommen klar. Bei der Berührung durchfuhr mich ein eisiger Hauch von bedrohlichem Surrealismus. Ich hatte die Ahnung eine weitere Dimension unter meiner Hand wahrzunehmen. Aber die Tür hatte auch eine absolut materielle Eigenschaft, die mir nicht gefiel: sie zitterte.

Nun konnte ich nicht mehr zurück, das war klar. Ich würde die Tür schließlich öffnen, ob ich mich jetzt umdrehen würde oder nicht. Früher oder später würde ich sie ohnehin aufstoßen. Vorher konnte ich diesen Platz nicht verlassen. Klar. Verdammt.

Wie stark? Egal. Ich gab der Türe einen kräftigen Stoß und fühlte wie der Flügel nachgab. In diesem Moment glaubte ich, etwas zöge an mir. Als würde meine Haut von den Fingerspitzen aus abgezogen werden. In das Gebäude hinein. Ein Kribbeln breitete sich in mir aus, das bald zu vielen kleinen Stichen zerlief. Doch es verschwand ebenso unverfroren, wie es gekommen war. Ein leichter Wind in meinem Rücken. Ich hätte schwören können, in der Kirche herrschte eine Art Unterdruck. Nur vermochte ich nicht auszumachen, was unterdrückt wurde.

Ich werde nun versuchen, einen Sinneseindruck nach dem anderen zu beschreiben. Davon sollte man sich nicht täuschen lassen. Ich bin mir nicht mehr sicher, welcher tatsächlich zuerst ankam oder ob sie alle gleichzeitig zu mir fanden.

Der Boden... der Boden der Kirche war aus alten, riesigen Steinplatten gebaut, die unregelmäßig und gebrochen unter mir lagen. Ein leichtes, kontinuierliches Beben, wie bei einem verstärkten Baßton, breitete sich hier aus. Ich konnte es bis in meine Knochen spüren. Ich denke, daß ich erst jetzt wirklich aufsah, meinen Blick vom Boden erhob.

Die Halle war größer als sie von außen schien. Nein, als sie hätte sein können. Mehr als hundert Kerzenlichter, schätzte ich von hier aus, waren nötig, um diese Helligkeit zu erzeugen. Und das war nicht viel. Denn an diesem Ort schien sich die Dunkelheit versammelt zu haben. Sie war nicht schwarz, sondern von einem entnervenden Grauton. Vielleicht bildete ich mir das aber auch nur ein. Ich hätte sie kaum sehen können, oder?

Auffälligerweise fehlte jede Art von christlicher Symbolik. Kein Kruzifix oder Jesusbild war zu sehen. Die Dunkelheit war das einzige Symbol.

Mir ging auf, das dieser Ort älter war als christliche Darstellungen, älter als das Christentum.

Nein, unmöglich. Venedig war noch nicht sehr alt. Ja, selbst der Baustil dieser Kirche war noch nicht sehr alt. Dennoch roch die Luft nach Ewigkeit. In dieser staubigen Atmosphäre verblaßten selbst ganze Sterne.

Weit über dem Baßanteil war nun ein Gemurmel zu hören. Kehlig und monoton drang es zu mir her. Zuerst dachte ich, es seien mehrere Stimmen, doch es war nur ein Trick der hallenden Wände, die mir das vorgaukelten.

Vorne, am Kopf des Gebäudes, stand ein alter Mann.

Seine Hände waren zum Himmel erhoben, wie im Gebet. Seine Lippen bewegten sich. Die Kleidung, die er trug, wirkte undurchdringlich schwarz. Es war seine Stimme, die ich hörte.

Ihn umgab ein Kreis. Ein Zirkel. Sein Durchmesser betrug etwa sechs Meter. Eine Armee von Grablichtern bildete diesen Kreis. Und da waren Rillen im Boden, die von einigen Lichtern aus strahlenförmig weg führten und an weiteren Kerzen im Raum endeten.

Ich begriff das System nicht. Aber ich begriff, daß es ein System war.

Während all dem hatte ich den allgegenwärtige Sog nicht vergessen. Er zog mich in den Kreis. Allerdings mit nicht sonderlich viel Kraft. Ich stemmte mich nun schon die ganze Zeit erfolgreich dagegen, ohne weiter darüber nachzudenken. Er war nicht stark. Aber er war da. Ganz klar da.

Gegen ihn konnte ich mich stemmen, aber nicht gegen meine eigene Neugier. Also ging ich weiter auf den Kreis zu. Ich war mir nicht ganz sicher, was ich mir von dieser Aktion erhoffte, aber etwas war es wohl. Die Hitze der Flammen schlug mir in stumpfen Wellen entgegen.

Ich hatte nicht aufgepaßt. Etwas war mir entglitten, entweder meine Füße oder mein Verstand. Aber ich merkte wie ich einem der Grablichter, eines von denen, die jenseits des Kreises standen, einen leichten Tritt gab und es damit von seiner Stelle entfernte.

Etwas brach.

Ein Sturm schlug mir entgegen, und nun machte es mir sehr wohl Mühe, mich dagegen zu stemmen. Das Flammenmeer wurde von einem plötzlichen Wind erfaßt und drohte zu erlöschen.

Am Rande meine Wahrnehmung bemerkte ich, daß die Worte des alten Mannes schneller und gehetzter wurden. Auch lauter, als er verzweifelt versuchte, gegen das aufgekommene Tosen anzukämpfen. Etwas schreckliches war im Begriff statt zu finden. Und es war meine Schuld.

Meine Füße wurden mir weggerissen, und die einzige Möglichkeit, die ich sah, mich weiterhin zu widersetzen, war, mich hinzulegen. Nun sah ich deutlich die Zeichen, fein und exakt in den Stein unter mir eingemeißelt, die mir bis zum jetzigen Zeitpunkt entgangen waren. Sie waren fremdartig, ich erkannte keines davon. Unwillkürlich fragte ich mich, wie man so fragile Linien so präzise in den Stein einbringen konnte. Und wie sie sich so lange halten zu halten vermochten, wo man doch dem gesamten Boden sein Alter deutlich ansah.

Ich erblickte wieder den Zirkel (das muß wohl heißen, daß ich für eine Weile auf den Boden gestarrt hatte). Etwas hatte sich dort gebildet. Wie eine Säule aus verdichtetem Staub umgab es den Mann und zog sich um ihn zusammen, wobei es zeitgleich zum Dach emporwuchs. Endlich begriff ich, daß der Sog mich nicht mehr in den Kreis hinein zog. Statt dessen schien er nun in die entgegengesetzte Richtung zu ziehen. Ja. Er kam aus dem Kreis.

Das Atmen fiel mir schwer. Ich wußte nicht, was ich tun sollte, da ich schon gar nicht wußte, was ich eigentlich angerichtet hatte. Ich hatte doch nur eine Kerze umgestoßen...

Sie lag direkt neben mir. Auf die Seite gekippt und mit erloschener Flamme. Das seidenfarbene Wachs lief gemächlich ein paar Linien entlang. Ich griff nach ihr mit meiner linken Hand und suchte unterdessen nach einem Hinweis auf ihre ursprüngliche Position. Ich erblickte einen Punkt an dem sich vier Geraden bildende Symbole trafen. Ich erinnerte mich.

Da stand sie nun. Nichts passierte. Sie brannte nicht. Moment... Klaras Feuerzeug... ich hatte es immer so gehaßt, wenn sie geraucht hatte...

Es brauchte fünf Versuche bis ich, mit vorgehaltener Handfläche, das Grablicht zum Brennen brachte. Und zuerst hatte ich reale Ängste, es würde wieder ausgehen.

Aber es brannte. Und erstaunlicherweise widerstand es dem Sturm.

Sofort wurde der Wind von einem Schwächeanfall ergriffen. Stoßweise versuchte er sich wieder aufzurappeln, jedoch ohne Erfolg. Er versiegte. Und der Sog kam zurück.

Ich muß wohl die Besinnung verloren haben, denn ich wurde von dem alten Mann geweckt. Es war windstill in der Kirche. Fast irreal. Die Grablichter brannten noch, aber es war heller. Ich fühlte mich ein wenig schwach.

Mit Gesten und akzentlastigem aber erstaunlich präzisem Deutsch bot er mir einen Stuhl an. Ich stimmte mit einem Nicken zu. Er gab mir einen Becher mit klarem Wasser. Seine Stimme war wie sein Blick, sanft und gutmütig. Aber alt.

"Wie fühlst du dich, junger Mann?"

"Ich weiß nicht. Müde. Aber auch irgendwie..."

"Gereinigt?"

"Ja."

Er nickte lächelnd und frischte mein Getränk auf. "Schon sehr lange hat sich keiner mehr hierher verirrt. Ewigkeiten. Du bist sicher neugierig."

War ich das? Vielleicht, ja. "Was meinen Sie? Was ist das für eine Kirche? Wo bin ich?"

Nun setzte er sich auch. Und mit seiner beruhigenden Stimme begann er zu erzählen.

"Diese Welt ist noch nicht so alt, wie du vielleicht glaubst. Sie existiert in dieser Form erst seit ein paar Tausend Jahren, unmöglich zu sagen, wie lange genau. Auch die Menschen sind noch nicht so lange hier. Vielleicht fünftausend Jahre, nicht viel mehr."

Ich schwieg. Dieser Unsinn war sogar so offensichtlich stupide, daß es sich nicht mal lohnte, dagegen zu argumentieren. Ich tat es dennoch. "Das ist doch Unsinn. Die Vergangenheit hinterläßt zwar selten mehr als ein paar Knochen, aber damit kann man immerhin schon einen Dinosaurier basteln. Und die sind schon ziemlich alt," meinte ich, und klang dabei etwas unsicherer, als ich geplant hatte.

"All das wird sehr mißverstanden. Die Welt wurde im Anbeginn der Zeit erschaffen, zusammen mit der Zeit selbst. Dieser Anfangspunkt in der Geschichte ist unklar, denn er ist der Übergang vom Nichtsein der Zeit zum Sein. Es ist eine Schwelle, die nur schwer zu fassen ist, wenn überhaupt. Sicher verstehst du ein wenig Mathematik. Es ist ein Limes. Man kann sich ihr nur annähern, sie aber nie erreichen. Und je näher man ihr rückt, desto schwieriger wird das Ergebnis zu fassen. Sicher, vor der Zeit gab es keine Zeit. In diesem Sinne existiert die Welt schon ewig. Aber doch sind es erst ein paar tausend Jahre."

"Woher wissen sie das so genau?" Ich glaubte ihm. Ich wußte, es stimmte. Auch wenn es im Nachhinein unglaublich erscheint.

"Es gibt Aufzeichnungen von meinen Vorgängern. Sie waren sehr penibel in ihrer Weise alles aufzuschreiben. Sie waren schon unter den ersten Menschen, aber erst sehr spät lernten sie über den Sinn und die Wichtigkeit ihrer Aufgabe. Unserer Aufgabe. Deswegen reichen die Aufzeichnungen nicht bis zum Anfang und deswegen kann ich dir auch nicht sagen wie lange wir schon auf der Welt sind. In jedem Fall hat es alles hier begonnen."

"Aber wo ist hier?"

"Du befindest dich an einem uralten Ort, der im Anfang erschaffen wurde und als einziger jenseits der Zeit existiert. Und jenseits des Raums."

"Ich verstehe nicht..."

"Das ist nicht schlimm. Es ist nicht ganz einfach zu verstehen. Dieser Ort besteht außerhalb der Dimensionen von Raum und Zeit. Er hat eine ganz andere Dimension. Das heißt, daß er überall und jederzeit existiert, aber eigentlich gar nicht."

Nein, ich verstand es nicht. "Das ist unmöglich."

"Das Universum entscheidet, was möglich und was unmöglich ist. Es hat keinen Grund, sich an die von Menschen verfaßten Gesetze zu halten. Wenn es eine von sich selbst aufgestellte Regel brechen will, dann tut es das einfach. Es ist Schiedsrichter und einziger Spieler zugleich. Nehme es als eine Art Klausel, ein Kleingedrucktes im Vertrag der Schöpfung. Wir sind nicht wirklich in Venedig, weil es diesen Ort eigentlich nicht gibt. Einer alten Konvention folgend ist er jedesmal woanders. Alle elf Jahre an einer anderen Stelle."

"Warum? Worum geht es überhaupt?"

Seine Miene wurde nun sehr ernst und bedrückt. Was ich hörte, würde mir nicht gefallen.

"Es geht um die Welt. Wenn sie weiterbestehen soll, muß das Ritual von Karmahn alle elf Jahre hier durchgeführt werden."

"Das Ritual von Karmahn."

"Es reinigt die Seelen der Welt. Alle Seelen. All der Haß der Zeit, der Menschen hätte die Erde längst verschlungen, wenn er nicht regelmäßig gebündelt und weg gesandt würde. Weißt du, nach neuesten Grundsätzen existieren Gut und Böse nur im Schein, aber das ist Unsinn. Gut und Böse sind sehr real, so real wie Himmel und Hölle. Es sind Kräfte, welche die Form unserer Welt bestimmen. Sie sind klar definiert und nicht alterierbar. Sie sind keine philosophischen Auswüchse menschlicher Einbildung und keine mystischen Tendenzen. Sie sind existent.

"Das Ritual von Karmahn, benannt nach dem ersten Wächter, der es anwandte, als er sah, wie die Welt von Zerfall bedroht wurde. Nicht durch äußere Kräfte sondern durch innere. Durch die Menschen selbst. Menschsein bedeutet, im ewigen Kampf mit sich selbst zu leben. Und es ist sehr wahrscheinlich, daß wir gegen uns selbst verlieren. Jeder von uns ist sich selbst der schlimmste Gegner."

"Aber warum? Warum das alles?"

"Warum? Weil der Schöpfer es so wollte. Wer hat gesagt, daß es fair sein soll? Die Fairness des Lebens ist eine Erfindung der modernen Gesellschaft. Sie hat nichts mit uns zu tun. Unsere Vorfahren wußten, daß die Welt nicht gerecht ist, und nie sein würde. Es liegt nicht in unserer Macht. Wer hat behauptet, die Existenz eines Menschen sei einfach? In Wirklichkeit ist es fast aussichtslos. Nein. Es ist nicht leicht, ein Mensch zu sein. Um die Wahrheit zu sagen, die wenigsten können es. Karmahn liebte und verstand seine Mitmenschen. Aber er wußte, daß sie nicht lange überleben würden. Also entwickelte er das Ritual. Ein Ritual zum Schutz der Menschheit, um ihre Existenz zu erleichtern. Man konnte es alle elf Jahre abhalten, diese Zeitspanne nennt sich Lagara, das Ritual funktioniert nur an jenem Tag. Karmahn glaubte, mit nur ein paar Lagaras Zeit würde die Menschheit sich entwickeln können. Sie würde ihre Lage verstehen und lernen mit ihr umzugehen. Aber dem ist nicht so. Tatsächlich ist es immer schlimmer geworden. Die Linie von Karmahn wird immer schmaler, seine Nachfolger weniger und weniger. Ich bin der letzte. Und das Ritual wird immer schwerer durchzuführen, denn das Böse ist nur noch stärker geworden, von Lagara zu Lagara. Nicht mehr lange."

"Nicht mehr lange? Was soll das heißen?"

"Es soll heißen, daß ich nicht weiß, ob ich das Ritual in Zukunft noch erfolgreich werde abhalten können."

"Was passiert, wenn es... wenn es fehlschlägt?"

Der alte Mann sah müde auf. "Dann regiert das Inferno."

"Sie meinen, die Welt fährt zur Hölle? Der Teufel unterjocht die Erde, das große Biest, 666 und all das?"

"Nein. Du hast es immer noch nicht verstanden. Die Hölle existiert nicht, noch nicht. Sie ist kein Ort, sondern ein Potential, wie der Himmel. Unsere Welt trägt den Kern der Hölle in sich. Sie hat das Potential zur Hölle zu werden."

Der folgende Gedanke versetze mir ein langsam anschwellendes Gefühl in meinem Magen. Als hätte mir jemand in Zeitlupe die Faust in den Bauch gerammt. Ich hatte Angst, das wußte ich. Aber es war keine gewöhnlich Art von Angst, im Sinne eines plötzlichen Schreckens oder kaltem Schweiß oder ähnliches (wie damals als Michael drei Tage lang nicht nach Hause kam und wir dachten, man hätte ihn entführt). Nein, es war profunder. Ich mußte nicht nur um mich fürchten, sondern um alles andere auch. Um einfach alles.

Ich sah ihn an und kam mir vor wie ein Verdammter, der ein letztes Wort mit dem Priester sprach. "Wie wird es sein?"

"Wir werden es herausfinden."

+++

Wir werden es herausfinden. Danach hatte er nichts mehr gesagt.

Ich erinnere mich nicht mehr genau daran, wie ich die Kirche verlassen hatte. Auf einmal stand ich wieder in Venedig, zwischen all den Leuten, und ich war glücklich und zugleich erschrocken. Was für Wesen waren das, die eine ganze Welt zur Hölle schicken konnten?

Ich dachte viel über das nach, was ich an jenem Tag gehört hatte. Eine Zeitlang versuchte ich, es zu vergessen, es zu verdrängen, mir einzureden, es sei nur ein Traum gewesen. Oder irgend so eine schwachsinnige Erklärung zu finden, die mich geistig krank, aber zumindest seelisch gesund machen würde. Es klappte nicht. Ich vergaß kein Wort.

Wenn ich verrückt bin, muß sich niemand Sorgen machen. Dann geht es nur um einen namenlosen Mann, der irgendwo in Venedig (oder vielleicht schon vorher) seinen Verstand verloren hat. Ich wünsche es euch. Ich wünsche es uns allen.

Aber wenn ich nun doch nicht verrückt bin? Wenn wir wirklich nur ein Grablicht davon entfernt sind, die Hölle in unsere Welt einzuführen? Ich hoffe, ich bin verrückt.

Versucht gar nicht erst, Ausschau nach dieser Kirche zu halten. Die Wahrscheinlichkeit, daß ihr sie findet ist niedriger, als im Lotto den Jackpot auszuräumen. Ohne vorher ein Los gekauft zu haben. Warum habe ich sie dann gefunden? Gute Frage. Ich habe auch darüber nachgedacht. Das macht mir noch mehr Angst als alles andere. Was, wenn ich sie hatte finden sollen? Als ob mir jemand etwas zeigen wollte. Daß wir sehr nahe sind. Der Abgrund ist zu unserem Horizont geworden. Und alles hängt vielleicht nur von den nächsten elf Jahren ab.

Übrigens, ich bin zu meiner Frau und meinen Kindern zurückgekehrt. Unsere Beziehung ist jetzt nicht frei von Schwierigkeiten, ganz und gar nicht. Aber es geht.

Es ist schon genug Haß in dieser Welt. Ich will kein Teil davon sein.

Danke für’s Zuhören.

Ende.